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Unterschiede Klootschießen – Straßenboßeln

Die Friesen-Kugel gibt es heute noch. In Schleswig-Holstein heißt sie Boßel und in Ostfriesland Kloot (aus dem Holländischen: Klumpen). Boßel und Kloot haben einen Durchmesser von sechs bis zehn Zentimetern, wiegen 500 Gramm, bestehen aus Holz, sind durchbohrt und mit Blei ausgegossen. Der Unterschied zum Friesenspiel mit den alten Römern [vgl. Historie]: Heute geht es in den Küstendörfern in Schleswig-Holstein und Ostfriesland, aber auch in Holland, Südirland und England weniger darum, irgend jemanden am Kopf zu treffen. Vielmehr dürfen sich diejenigen als Sieger feiern lassen, die die Kugel am weitesten schleudern.

Was gespielt wird, wird Boßeln (vom mittelhochdeutschen Wort bozen = stoßen) oder Klootscheeten (Klumpenschießen) genannt. Geboßelt wird im Winter, möglichst bei gefrorenem Boden. Es gibt Straßen- und Feldkämpfe über kilometerweite Strecken, von einem Ort zum andern. Zumeist kämpfen zwei Teams, jeweils zwischen zehn und 101 Mann stark, gegeneinander. Abwurfstelle für einen Boßler ist der Punkt, den sein Vorgänger erreichte.

Winterlicher Boden ist deshalb so gefragt, weil bei einer Distanz von über zehn Kilometern querfeldein die Kugel ab und zu in einem Feldbach verschwindet. Und schleswig-holsteinische Boßler, in der Regel Nordfriesen, und selbst Ostfriesen wissen genau, daß ein vereister Bach der Boßel das Untertauchen durchaus erschwert.

In der Bundesrepublik gibt es zwei Verbände: den Verband schleswig-holsteinischer Boßler (etwa 4500 Mitglieder) und den ostfriesischen Klootscheeter-Verband (etwa 5000 Mitglieder). Seit Jahrhunderten tobt zwischen den beiden Völkerstämmen der Machtkampf um die Vorherrschaft in der Boßelkunst. Und seit Jahrhunderten galten die Ostfriesen als die Stars der Materie, Nordfriesen nur als Mitläufer und Neider.

Seit wenigen Jahren jedoch können die in unzähligen Wettkämpfen Gedemütigten aus Schleswig-Holstein mithalten. Dank des Sportstudenten Rainer Christiansen aus Koldebüttel (13 km südlich von Husum), dessen Bestweite auf 97 Metern steht – im Dreierwurf bei 281,9 Metern. Eine Leistung, die selbst Ostfriesen zu einem anerkennenden Brummen veranlaßt. Was ihnen weniger gefällt, ist die schleswig-holsteinische Taktik, den Christiansen fast in jedem Wettkampf einzusetzen.

Die Wurftechniken der Kontrahenten aus Ost- und Nordfriesland bzw. Schleswig-Holstein sind verschieden. Die Ostfriesen schleudern die Kugel nach einem ordentlichen Anlauf mit abschließender vertikaler Armdrehung, durch die Luft. Als Anlauffläche benutzen sie einen 30 Meter langen dunkelroten Teppich, an dessen Ende ein stark gefedertes Absprungbrett liegt. Im Winter eine rutschfeste Angelegenheit. Die Schleswig-Holsteiner – so beispielsweise ihr früherer Verbandsvorsitzender Klaus Schneider, ein Konrektor in St.Peter-Ording – behaupten, daß „die Ostfriesen erst dann anlaufen, wenn die letzte kleine Falte aus dem Teppich gebürstet ist“.

Die Konkurrenz hält nichts von den Hilfsmitteln der Ostfriesen. Nordfriesen ziehen Nagelschuhe (Spikes) an, wenn sie auf glattem Untergrund anlaufen. Außerdem machen sie vor dem Abwurf noch eine Drehung und schleudern die Boßel von sich wie ein Diskuswerfer den Diskus.

Diese Technik ist selbst dem Brockhaus nicht bekannt. Dort steht unter „Boßeln“ nur die Definition der ostfriesischen Spielart. Schleswig-Holsteiner unterstellten in den Zeiten ihrer Demütigung dem Brockhaus, er habe diese Definition von einem ostfriesischen Mitarbeiter erstellen lassen.

Auch ein anderes Beispiel zeigt, wie sehr der Stachel der Niederlagen die Schleswig-Holsteiner piesackte. Als man noch auf die urige Wurfkraft des Studenten Christiansen verzichten mußte, sagte einmal Nordfriese Peter Petersen, Vereinswirt des Boßel-Vereins in Garding: „Unser Wurf mit der Drehung ist viel schwieriger. Sollen die Ostfriesen doch ruhig weiter werfen als wir. Unser Stolz verbietet uns, diesen primitiven Wurfstil zu übernehmen. Und dann noch der Zirkus mit dem Teppich…“ Heute strahlt Wirt Petersen: „Klasse setzt sich eben durch. Der Christiansen hat den Ostfriesen endlich die Zähne gezeigt.“

Steht die sogenannte Boßel-Olympiade ins Haus, wird der Gegensatz der Lager besonders deutlich. Dann, wenn sich Iren, Engländer, Holländer und Deutsche treffen, um die weltbesten Boßler zu ermitteln, beschwören Schleswig-Holsteiner und Ostfriesen ein deutsch-deutsches Problem eigener Art herauf. Man startet mit zwei Mannschaften: Nordfriesen und Ostfriesen. So war’s bei der Olympiade 1972 in Garding, 1974 in Holland – (…) es 1977 auch im irischen Cork (…) einzige, worauf sich die Friesen bisher einigen konnten, war die gemeinsame Nationalhymne.

Waren 1972 vorwiegend Iren und Ostfriesen erfolgreich, so wollen im nächsten Jahr die Nordfriesen endlich den großen olympischen Durchbruch schaffen, mit Christiansen freilich keine große Kunst. Eine 60-Mann-Equipe wird dann nach Irland reisen, neben den Wettkämpfern auch Betreuer, deren Aufgabe es übrigens ist, die schmutzige Boßel abzuwischen. Ferner sind Schlachtenbummler und Politiker – wie beispielsweise Nordfrieslands Landrat Dr. Klaus Petersen – mit von der Partie.

Das olympische Programm:

Der Straßenkampf nach irischen Regeln mit einer 800 Gramm schweren Eisenkugel. Am Start sind Zehner-Teams, wobei jeder zwei Würfe hat

Der Feldkampf nach holländischen Regeln mit dem 275 Gramm schweren Kloot – mit Zehner-Mannschaften, wobei jeder einmal werfen darf.

Der Standkampf nach ost- und nordfriesischen Regeln mit der 500 Gramm-Kugel. Hier hat jeder vier Würfe. Die drei besten werden gewertet.

Es dauerte viele Jahre, ehe die Disziplinen der Olympiade unter einen Hut gebracht. waren. Denn auch Iren und Holländer verteidigten stolz ihre eigenen Spielarten und sorgten lange Zeit für ein Boßel-Babylon.

Boßel-Olympia muß – wie die Große olympische Bewegung – ebenfalls mit Boykottdrohungen leben. 1972 zum Beispiel wollten Holländer und Iren der Olympiade in Garding fernbleiben, weil der Veranstalter den Gottesdienst nicht ins olympische Programm mit aufgenommen hatte. Erst a1s die Nordfriesen nachgaben, sagten Holländer und Iren zu.

Die Boßler im Norden Deutschlands behaupten es nicht nur, sie weisen auch nach, daß die Gardinger Olympiade 1972 für eine Verbreitung ihrer beliebten Sportart sorgte. Zuschauende Touristen zeigten Interesse. Und fortan findet – allerdings im Sommer – in jedem Dorf zweimal in der Saison Touristen-Boßeln statt. Letzten Sommer nahmen in St. Peter-Ording an einem Wettbewerb 250 Gäste teil, die bei Niedrigwasser übers Watt marschierten und die Kugeln vor sich herwarfen.

Die einheimischen Boßel-Könige stehen dann als aufmerksame Zuschauer am Rande, belächeln die Ungeschicklichkeit der Touristen und amüsieren sich köstlich darüber, daß die Gäste im Sommer und nicht im Winter boßeln. Doch Kugelwerferei bei bei klirrender Kälte und Frost ist nun auch nicht gerade zum Lachen. Vor einigen Jahren, als noch Dorfmannschaften von jeweils 101 Mann gegeneinander boßelten und dabei zwei oder drei Tage mit Kind und Kegel, Pfarrer und Lehrer unterwegs waren, stellten sich die winterlichen Temperaturen als in der Tat nachteilig heraus.

Bei einbrechender Dunkelheit mußte der Mammut-Wettstreit stets unterbrochen werden. Jede Partei stellte mehrere Betreuer ab, die in der Nacht bei eisiger Kälte die eigene Boßel bewachten, damit der Gegner etwaige dumme Gedanken nicht realisieren und die Kugel meterweit zurücklegen konnte. Boßel-Kenner wissen zu berichten, daß einige Boßel-Wächter bei ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit Erfrierungen davontrugen.

Experte und Konrektor Klaus Schneider bedauert, daß die Mammutkämpfe 101 gegen 101 Mann heute nicht mehr stattfinden: „Heute sind es höchstens 61 gegen 61. Viele haben eben nicht mehr soviel Zeit wie früher.“

Einige Zöpfe wurden radikal abgeschnitten. Wörtlich gilt das für die Aufforderung zum Kampf. Lange war es üblich gewesen, die Boßel im Vereinslokal des Gegners an einem geflochtenen Zopf aufzuhängen und zu warten, bis dieser gekappt und damit die Herausforderung angenommen war. Heute funktionieren die Wettkampfabsprachen auch in Ostfriesland per Telefon. Auch werden nicht mehr wie früher Knechte nur nach ihren Boßelfähigkeiten von den Bauern eingestellt und bezahlt.

Es gibt jedoch Traditionen, die überlebten. Als Boßel-Fachsprache wird seit Jahr und Tag das Plattdeutsche bevorzugt. Beispiel: „Düt Spektokel ist ja dat Schöne an uns Spill.““

(aus: Die Welt)

Die Formen des Standboßelns

Beim Standboßeln wird mir der kleineren, handlicheren Boßelkugel bzw. Kloot geworfen. Sie ist 475 g schwer und aus Apfelbaumholz mit „Bleidurchschüssen“, und sie liegt „handschmeichlerisch“ in der Hand. Es gibt zwei Wurftechniken:

a) In Ostfriesland wird auf einem dreißig Meter langen roten (!) Teppich, der an seinem Ende ein stark federndes Absprungbrett hat, angelaufen. Mit dessen Federkraft und dem vertikalen Armschwung wird der Kloot in die Luft befördert.

b) In Nordfriesland bevorzugt man den Drehwurf, der dem Diskuswurf gleicht. Der Werfer dreht sich dabei mehrfach um die eigene Körperachse.

Mit beiden Wurfarten werden Weiten um die 100 m erzielt. Das Klootschießen ist ein Männersport, während beim Straßenboßeln schon lange „de Fruunslüd“ mitwerfen, mittrinken, mitgewinnen.

Alle vier Jahre gibt es für die Straßenboßler die „Boßelolympiade“, zu der sich Sportler aus Irland, Südengland, den Niederlanden, aus Ost- und Nordfriesland treffen. Die Engländer nennen die Kugel „bowl“, bei den Iren heißt sie „bol“. Der Boßelgruß ist „Lüch op“ (Heb auf), ein Wurf heißt „Schmeet“ oder „Schott“ (ein besonders weiter Wurf, eine Überrundung); der zurückgelegte Weg der Kugel, aber auch der Effet, der Drall, die Beachtung von Bodenbeschaffenheiten wird mit „Trüll“ (wortverwandt mit dem hochdeutschen „Trullern“) bezeichnet.

Der offizielle Schiedsrichter ist der „Kretler“, und voran gehen der „Kiek ut“, der „Bahnweiser“, der den Boßlern fahnenschwenkend den besten Weg zum Boßeln anzeigt, und er „Stockleger“, der den Punkt bezeichnet, an dem die Boßelkugel den Boden berührt hat (beziehungsweise liegengeblieben ist).

Pech haben die Spieler, die einen „Bleier“ machen. Bei diesen Würfen wird die Kugel durch schlechtes Abwerfen aus der Bahn getragen. Dieses Bleiern bedeutet nicht selten einen großen Umweg, weil immer in schnurgerader Richtung nach einem kilometerweit entfernten Ziel geboßelt werden muß. Gräben, Hecken, Zäune, ja selbst Straßen und Bahnkörper sind dabei keine Hindernisse. Die Kugel wird dann so geworfen, daß sie vor oder hinter ihnen aufsetzt. Von großer Bedeutung für das gerade Fluchten ist der Bahnweiser, der die Richtung anzeigt. Er ist der größte aller Männer und muß ein Gefühl für das Gelände haben. Etwa hundert Meter geht er voraus und zeigt mit einer Fahne dem Werfer die Richtung an: „Hier mutt se hen“.
(aus: Stern)

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